Ist Yoga ein Selbstzweck?
Die Yogafestival-Saison neigt sich dem Ende zu, die Konzerte sind verklungen, die Umarmungen gelöst, die Yogaklassen waren inspirierend und haben gut getan - hach, was war das alles wieder schön.
Und nun? Was bleibt nach dem Schwelgen in dieser weltentrückten Yoga-Bubble? Etwas ratlos schauen wir auf eine ver-rückte Welt, der Yoga, Gelassenheit und Handeln nach yogischen Werten so richtig gut tun würde.
Funktion von Yoga in der Geschichte
Wenn man ein wenig in die Vergangenheit schaut, stellt man fest, das Yoga unaufgeregt war. Keine Festivals, Retreats, Urlaubsreisen und Masterclasses.
Yoga war - wenn ich es recht in der Literatur gelesen und verstanden habe - ein Lehrkanon vor allem für Menschen, die Verantwortung getragen haben. Das waren Menschen mit Aufgaben in der Gesellschaft wie Unternehmer, Kaufleute, Lehrer, Offiziere, Handwerksmeister, Leiter in der öffentlichen Verwaltung, Richter, Gelehrte, Priester, Anwälte usw. Also Menschen die Vorbild sein mussten und überwiegend die öffentliche Ordnung prägten.
Vom Ich zum Wir
Für diese Menschen war Yoga mit den Aspekten Yamas, Niyamas, moderates Üben von Asanas, Pranayams und regelmässigen Meditationen ein Set an Werkzeugen, welches sie mit täglicher Disziplin (Stichwort 'Sadhana') übten, damit sie gesund, belastbar, resilient, emotional und hormonell ausgeglichen waren. Kurz: die Menschen sollten ungeachtet ihres Egos sozialverträglich gut in der Gesellschaft 'funktionieren'.
Mein Yogalehrer sagte einst zu mir: "Jürgen, du bist vielleicht ein guter Yogalehrer, aber dein eigentliches Wirkungsfeld ist jenseits der Yogamatte. Bringe Yoga und Wirtschaftswelt zusammen, das ist deine Aufgabe...." Das ist mein Antrieb, warum ich mich in der Gemeinwohl-Ökonomie engagiere - einfach weil ich da den größten Hebel zur Veränderung der Welt eben in unserem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld sehe.
"Transformation durch Verantwortung" - das war das Motto des gerade vergangenen GWÖ-Summits in Rottweil, an dem ich teilnehmen durfte.
Verantwortung und Gesellschaft
Der größte Punkt ist hier, dass wir in der GWÖ das Allgemeine Wohl in den Mittelpunkt des wirtschaftlichen Tuns stellen und uns von der unbedingten und rücksichtslosen Profitmaximierung abkehren.
Aristoteles nannte den 'wirtschaftlichen Austausch' schon vor über 2000 Jahren 'Oikonomia' - und der solle zum Vorteile von allen Beteiligten dienen: Herstellern, Händlern, Kunden und Gesellschaft als Ganzem. Soweit die Theorie.
Unter dem Deckmantel von 'Nachhaltigkeit' geschieht leider gerade ganz viel Greenwashing und das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (... was für ein Wort-Monstrum) geht in die Richtung: "Wasch mich, aber mach mich nicht naß...".
Soll heißen: Bitte weiterhin Business as usual, bitte keine echten Veränderungen bei Konsum, Globalisierung und Lieferketten, dafür aber 'Weiter So' mit Siegel und Zertifikat. Das sehe ich sehr kritisch und wünsche mir da viel mehr Achtsamkeit, Ehrlichkeit und Transparenz - auch und gerade in der Yogaszene.
Passen Yoga und Politik?
Noch vor einigen Jahren hätte ich gesagt: Nein... Heute bin ich da anderer Ansicht. Sobald Menschen füreinander und miteinander verantwortlich umgehen, braucht es eine Werte-Vereinbarung. Diese nannte Aristoteles damals schon 'Ethos'. Und damit diese gut funktioniert, benötigt es eine starke Kraft im Staate, eben 'Polis' oder die Politik, welche die Einhaltung und Wahrung der Werte fördert und fordert. Damit ist jede Übernahme von Verantwortung in der Gesellschaft auch ein gewisser politischer Akt. Da sind wir als Bürger gefordert und auch in der Pflicht.
Beim GWÖ-Summit unterhielt ich mich länger mit einem Landtagsabgeordneten von Baden-Württemberg. Er sagte mir unter anderem:"... wir als Politiker brauchen dringend das Feedback und die Wünsche von Bürgern und Unternehmen. Nur so können wir die politische Willensbildung des Volkes mit den in unserer Demokratie zur Verfügung stehenden Werkzeugen wie Anträgen, Abstimmungen, Ausschüssen, Gremien und öffentlicher Debatte gestalten. Frust, Populismus und gar Protestwahlen schaden uns als ganzer Gesellschaft..."
Einfach weil dadurch kleine laute Minderheiten die Oberhand bekommen und stille Mehrheiten mit ihrer Interessenslage nicht mehr gehört werden. Was aber auch klar sein sollte: jede gesellschaftliche Veränderung wie beispielsweise die anstehende Energiewende führt zu Widerständen und Anpassungsschmerzen. Leider sind unsere Legislaturperioden für solche langen Veränderungen zu kurz und das Parteienkalkül unseres politischen Systems oft genug weg vom Interesse der Bürger.
Hier brauchen wir eine Evolution unseres Politik-Betriebes. Und das geht nur, wenn wir uns als Yogis / Yoginis in unserer Rolle als Bürger involvieren, engagieren und für unsere Interessen konstruktiv einstehen.
Einsatz für unsere Gesellschaft
Daher mein Appell: nimm den Yoga-Spirit mit und trage ihn rein in die Verantwortung im Lande. Gerne beispielsweise im Gemeinderat, in Vereinen, im Ehrenamt, in der Nachbarschaft aber auch im Job und in der öffentlichen Diskussion. Wir müssen schützen was uns wertvoll ist, müssen uns engagieren, wo wir eine Möglichkeit dazu haben. Da würde ich sehr gerne mehr echte Yogis und Yoginis sehen. Und eben nicht nur als Selfie-Darsteller in exotischer Kulisse in den sozialen Medien.
Wir freuen uns wie immer auf Feedback und Anregungen, gerne per Email an jl@bausinger.de